Südafrika: Apartheid in Südafrika

Südafrika: Apartheid in Südafrika
Südafrika: Apartheid in Südafrika
 
Im »Hafengebiet von Kapstadt wimmelte es von bewaffneter Polizei und aufgeregten Beamten in Zivil. Wir mussten, immer noch aneinander gekettet, im Laderaum der alten Holzfähre stehen, was schwierig war, da das Schiff in der Dünung vor der Küste auf- und abschwankte. Ein kleines Bullauge über uns war die einzige Lichtquelle. Das Bullauge diente aber auch noch einem anderen Zweck: Die Wärter machten sich einen Spaß daraus, auf uns herunterzuurinieren. Es war noch hell, als wir an Deck geführt wurden und zum ersten Mal die Insel sahen. Grün und schön war sie, und auf den ersten Blick sah sie eher wie ein Erholungsort als wie ein Gefängnis aus. .. Wir wurden von einer Gruppe stämmiger weißer Wärter in Empfang genommen, die ausriefen: »Dies ist die Insel. Hier werdet ihr sterben«.«
 
Mit diesen Worten wird in der Autobiographie »Der lange Weg zur Freiheit« der Beginn einer 27-jährigen Haft geschildert. Der Betroffene heißt: Nelson Mandela. Er war einer der Führer des Widerstands gegen die Politik der Rassentrennung, der Apartheid. Zusammen mit der Führungsspitze der wichtigsten Organisation der schwarzen Bevölkerungsmehrheit Südafrikas, des African National Congress (ANC), hatte man ihn 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt. Was hatte diesen schwarzen Rechtsanwalt, einen Angehörigen des Adels seines Herkunftsvolks, der Tembu, dazu bewogen, große Risiken auf sich zu nehmen und im Untergrund den bewaffneten Kampf zu organisieren?
 
Wie alle Schwarzen hatte auch Mandela die vielen Erfahrungen der Ungleichbehandlung der Rassen machen müssen. 1940 war der damals 22-Jährige aus seinem ländlichen Herkunftsgebiet nach Johannesburg gekommen, in das industrielle Zentrum Südafrikas und das »Mekka« des Goldbergbaus. Er hatte sich zunächst eine Zeit lang mit Jobs durchgeschlagen, als Aufseher in einer Mine und als Bürobote in einer Anwaltskanzlei. Der tagtägliche Augenschein sollte ihm die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung überdeutlich machen: In gesichtslosen Schlafstädten weit außerhalb des Stadtzentrums, in viel zu kleinen Häusern ohne Wasser- oder Stromanschluss oder in überfüllten Slums wohnend, musste sie für karge Löhne arbeiten und war Hunderten von gesetzlichen Bestimmungen und Einschränkungen unterworfen, die nur für die Bewohner mit schwarzer Hautfarbe galten. Mandela, der später studierte und dann den Beruf des Rechtsanwalts ausübte, durfte sich so wenig wie alle anderen schwarzen Südafrikaner aussuchen, wo er wohnen wollte; auch ihm war es untersagt, nachts die Wohngebiete der Weißen zu betreten. Diese Erfahrungen hatten ihn zur politischen Arbeit geführt — Erfahrungen, die er schon vor der Einführung der Apartheid im Jahre 1948 sammeln konnte. Denn eine Politik der Rassentrennung, der Privilegierung der Minderheit auf Kosten der Mehrheit, hatte es in Südafrika schon lange vorher gegeben.
 
 Schleichende Entrechtung — Die Kontinuität der Rassentrennung
 
Der Rassismus entstand in Südafrika nicht erst mit dem Aufstieg des Faschismus in Europa, sondern bereits im frühen 19. Jahrhundert. Und die Praxis einer Rassentrennungspolitik wurde nicht erst 1948 neu eingeführt, als die National Party (NP) einen Wahlsieg errang und die Apartheid nun zum Regierungsprogramm erhob, sondern bestimmte schon seit dem frühen 20. Jahrhundert die Politik des Landes. Drei Jahre nach der 1910 begründeten Südafrikanischen Union wurde mit dem Native Lands Act eines der zentralen Gesetze verabschiedet, ohne das die spätere Apartheid kaum denkbar gewesen wäre. Schwarze durften danach kein Land erwerben — außer in eigens dafür ausgewiesenen Stammesgebieten. Diese Spielart der territorialen Rassentrennung wurde schließlich in mehreren Stufen in die spätere Homelandpolitik überführt.
 
Alle südafrikanischen Regierungen seit 1910 hatten sich darum bemüht, dem Wähler zu vermitteln, dass sie dem »Kaffer« seinen Platz schon zuweisen wollten, nämlich ganz unten. Der viel gepriesene, an der Gründung des Völkerbunds und der UNO beteiligte südafrikanische Politiker Jan Smuts hatte sich bereits 1917 für eine Politik der Rassentrennung stark gemacht, was seinem internationalen Ansehen übrigens keinen Abbruch tat — warum auch? Weder die Briten in ihren Kolonien noch die französischen oder portugiesischen Kolonialherren praktizierten etwas anderes als die weißen Südafrikaner. Das Land stieß bis in die Sechzigerjahre mit seiner Apartheidpolitik kaum auf internationale Kritik, weil es sich wenig anders verhielt als die übrigen weißen Mächte. Außerdem verfügte die Südafrikanische Union wegen des Reichtums an Edelmetallen über eine starke Machtposition: Gold, Platin, Diamanten und das im Kalten Krieg immer wichtiger werdende Uran stärkten Südafrikas Stellung auf den Weltmärkten.
 
Doch betrachten wir den Apartheidstaat Südafrika etwas genauer: Schon vor 1948 galt die Rassentrennung auch im Bereich der Politik. Nur in der Kapprovinz hatte eine sehr begrenzte Zahl von Schwarzen das Wahlrecht (bis 1936). In den übrigen Provinzen waren sie politisch vollkommen entmündigt. Auch die spezifische Politik der Rassentrennung in den Städten war keineswegs neu; sie setzte schon in den Zwanzigerjahren ein, als die urbanen Zentren per Gesetz als Gebiete der Weißen deklariert wurden, in denen den Schwarzen kein dauerhaftes Wohnrecht zustehen dürfe. Das Verbot von Mischehen erhielt erstmals in den Dreißigerjahren Gesetzeskraft. Die Apartheid, die die Regierung unter Premierminister Daniel Malan 1948 offiziell zur politisch-gesellschaftlichen Doktrin erhob, war zunächst einmal nur eine Verschärfung all dieser schon viel länger bestehenden Bestimmungen der Rassentrennung. Diese waren allerdings in den Vierzigerjahren laxer gehandhabt worden als zuvor, da die Weißen Südafrikas im Zweiten Weltkrieg auf das Wohlverhalten der schwarzen Mehrheit besonders angewiesen waren. Der Sieg der National Party 1948 war eine Reaktion auf diese liberale Handhabung, aber auch auf die durch den Krieg ausgelösten sozialen Veränderungen, als deren bedeutendste die massive Zuwanderung von Schwarzen in die Städte zu sehen ist. Dort übertraf die Zahl der Schwarzen nun erstmals die der Weißen. Außerdem hatten schwarze Südafrikaner wegen der kriegsbedingten Knappheit an weißen Arbeitskräften, die in Nordafrika unter britischem Kommando kämpften, Zugang zu Berufen, die zuvor durch die job reservation den Weißen vorbehalten waren. 1948 folgte die Mehrheit der weißen Wähler den Versprechungen der NP, mit dem »Flickwerk« der Rassengesetzgebung endlich aufzuräumen und es durch ein in sich stimmiges System zu ersetzen.
 
 Die Ideologie der Apartheid
 
Was unterschied nun, abgesehen von der größeren Radikalität und der rigiden bürokratischen Umsetzung, die Apartheid von früheren Formen der südafrikanischen Rassentrennung? War die neue Doktrin letztlich nur »alter Wein in neuen Schläuchen«? Apartheid heißt dem Wortsinn nach zunächst nichts anderes als Trennung; gemeint war freilich Rassentrennung, denn das Wort war ursprünglich nur die afrikaanse Übersetzung des englischen Worts segregation, mit dem bis dahin die gültige Praxis in Südafrika bezeichnet wurde. Die burischen Nationalisten brachten diese Übersetzung in Umlauf, um so zu unterstreichen, dass sie ihre Politik als etwas Neues betrachteten. Sie entwickelten einen ganzen Wust neuer Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster für ihre Doktrin der Apartheid, die sie für legitim, ja »gottgewollt« hielten, die sich aber vom in allen damaligen Kolonien anzutreffenden Siedlerrassismus grundsätzlich nicht unterschied.
 
Im Rahmen geschichtsphilosophischer Begründungen wurden die Völker und Kulturen der Welt auf einer Entwicklungsskala angeordnet, wobei die überlegene technisch-industrielle Zivilisation Europas ganz oben, die afrikanische Zivilisation als »Barbarei« ganz unten angesiedelt waren. Daraus leitete man ein Prinzip der Treuhandschaft ab: Die Schwarzen seien wie Kinder, so argumentierten die Ideologen; sie seien nicht in der Lage, sich selbst aus dem Zustand der Barbarei emporzuentwickeln, bedürften folglich der wohlwollenden Hilfe der zivilisierten Weißen.
 
Ethnologen hatten demgegenüber seit dem frühen 20. Jahrhundert großen Wert auf die Feststellung gelegt, dass die schwarzen Afrikaner sehr wohl über eine Zivilisation verfügten, die allerdings ganz anders strukturiert und aufgebaut sei als die der Weißen. Zudem bilde jede der Zivilisationen oder Kulturen ein in sich geschlossenes Ganzes, bei dem jede Komponente auf die übrigen abgestimmt sei. Verändere man auch nur eine dieser Komponenten, so drohe die ganze Kultur zu zerfallen. Die Verstädterung mit all ihren Folgen von Verelendung, wachsender Kriminalität und Verfall der Familien schien diese Behauptung auch zu stützen. Man könne folglich die wertvollen afrikanischen Kulturen nur dann erhalten, wenn man sie vor den verderblichen Einflüssen der europäischen Zivilisation nachhaltig schütze. Das bedeutete den Erhalt traditioneller Institutionen, die Verhinderung von Verstädterung, die Festschreibung einer agrarischen Wirtschaftsweise.
 
Dem gesellten sich theologische Erklärungsmuster hinzu: Die Tatsache, dass es so viele Völker auf der Welt gebe, sei der Beleg dafür, dass Gott dies so gewollt habe. Deswegen dürfe der Mensch daran nicht rühren, sondern müsse den Erhalt dieser Schöpferordnung vielmehr als seine Aufgabe begreifen. Hinter dieser Annahme verbarg sich die Sorge der afrikaanssprachigen weißen Nationalisten um den Erhalt der eigenen Burennation.
 
Die Sichtweise von der gottgewollten Vielfalt der Völker ließ sich in einem nachfolgenden Argumentationsschritt weiter ausbauen, indem man nämlich nicht mehr nur pauschal von einem Gegensatz zwischen der weißen und der schwarzen Rasse sprach, sondern darüber hinausgehend die Schwarzen nach ethnologischen Kriterien in eine Vielzahl von »Stämmen« aufspaltete. Angesichts der um sich greifenden Verstädterung war dies ein realitätsfernes Unterfangen, da diese »Stämme« längst in voller Auflösung begriffen waren. Die Apartheidpolitiker meinten darum allen Ernstes, Südafrika als ein Land beschreiben zu können, in dem letztlich nur Minderheiten lebten, da die Afrikaner als einheitliche Gruppe nicht mehr fassbar waren.
 
 Die Einführung der bürokratischen Rassentrennung
 
Ziel der Apartheid war die Rassentrennung und Grundlage dieser Trennung das Gesetz über die Registrierung der Bevölkerung (Population Registration Act). Dieses Gesetz aus dem Jahre 1950 bestimmte, dass jeder Südafrikaner durch (weiße) Beamte einer von vier »Rassen« zugeordnet werden solle, der Rasse der Weißen, der Schwarzen, der »Asiaten« (Inder) und der coloureds (Farbige). Zu Letzteren rechnete man alle diejenigen, die den drei anderen Gruppen nicht angehörten. Dieses Gesetz eröffnete breiten Spielraum für Bürokratenwillkür und Korruption. Denn die Kriterien für die Zuordnung zu einer der vier Rassen ergaben sich nicht aus zweifelsfrei überprüfbaren, das heißt wissenschaftlich haltbaren Maßstäben, sondern aus dem subjektiven Eindruck des jeweiligen Beamten.
 
Ein klar strukturiertes Programm der Apartheid hat es aber im Grunde niemals gegeben. Der Eindruck des Planvollen wurde vor allem durch die Geschwindigkeit hervorgerufen, mit der die Regierung Malan die Apartheidgesetze verabschiedete. Alles, was zuvor noch im Entscheidungsspielraum untergeordneter Behörden gelegen hatte, wurde nun gesetzlich reglementiert: Die Beamten erhielten klare Anweisungen, was zu tun sei und wie sie die Gesetze und Verordnungen auszuführen hätten. So engte eine ständig steigende Zahl legislativer Akte die ohnehin schon eingeschränkten Handlungsspielräume der afrikanischen Bevölkerung noch weiter ein. Von der Zuordnung jedes einzelnen Individuums zu einer Rasse über das Mischehenverbot und die Ausweisung getrennter Wohngebiete in den Städten durch den Group Areas Act bis hin zur Reservierung von Parkbänken, Stränden, Eingängen in Geschäfte und Ämter für die einzelnen »Rassen« wurde alles getrennt, — das öffentliche und das private Leben gleichermaßen. Auch im Bereich der freien Wahl des Arbeitsplatzes für Schwarzafrikaner galten starke Reglementierungen. Die Grundlage dafür bildeten zum Beispiel die Passgesetze aus dem Jahre 1952. Damit wollte der Staat die Kontrolle über die Wanderbewegungen zwischen Stadt und Land gewinnen. Denn so wichtig dem Apartheidstaat einerseits die Beschaffung billiger Arbeitskräfte in ausreichender Zahl war, so sehr war ihm andererseits daran gelegen, die Schwarzen von den Städten fernzuhalten. Auch die Reservierung von Facharbeiterstellen für Weiße schmälerte die Aufstiegschancen aller anderen und beeinträchtigte die gesellschaftliche Mobilität. Rassentrennung bedeutete darum keineswegs nur die geographisch-räumliche Trennung, sondern zielte auch auf eine soziale Blockade für Schwarze und war insgesamt ein System von Sicherungen der Privilegien für Weiße.
 
Auch die Schulen waren im Apartheidstaat getrennt. 1953 nahm die Regierung ihr Ziel der Schaffung eines getrennten Bildungssystems für die Schwarzen in Angriff und verabschiedete den Bantu Education Act. Dieses Gesetz war darauf ausgerichtet, den Schwarzen nur rudimentäre Kenntnisse zu vermitteln, um ihre soziale Mobilität zu beschränken und sie dauerhaft auf den Status ungelernter Arbeitskräfte festzulegen. Der Minister für Eingeborenenfragen und spätere (1958—66) Premierminister Hendrik Verwoerd gestand offen ein, dass der Education Act den schwarzen Südafrikanern den Weg ins westliche Bildungssystem versperren sollte. Das Apartheiderziehungssystem zielte zudem darauf ab, die ethnische Einteilung in Stämme zu verfestigen, obwohl die ethnisch-kulturellen Unterschiede in den townships, den Randbereichen der großen Städte, eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Die staatlichen Ausgaben für die Schulen der Schwarzen betrugen nur einen Bruchteil dessen, was für die weißen Schüler ausgegeben wurde. Dementsprechend waren die Zustände dort. Viele Lehrer waren selbst kaum über einen Grundschulabschluss hinausgekommen und versuchten ihre fehlende Kompetenz auszugleichen, indem sie in den heillos überfüllten Klassenräumen durch Prügel »Disziplin« herzustellen suchten.
 
Schon während des Zweiten Weltkriegs meldete sich Widerstand seitens der Schwarzen gegen die Politik der Rassentrennung. Erstmals fand damals die Vorstellung Gehör, die Schwarzen seien das eigentliche Volk Südafrikas, die Nation. Als die NP daran ging, den Apartheidstaat aufzubauen, setzte sich im ANC diese neue Sichtweise durch und äußerte sich in ersten großen Protestaktionen gegen die Politik der Regierung. Damals gelang es dem ANC, seine schmale, auf die schwarze Elite beschränkte Basis zu durchbrechen und dauerhaft Verbindungen zur städtischen Arbeiterschaft sowie zur ländlichen Bevölkerung aufzubauen. Die Massenkampagnen der Fünfzigerjahre, als der ANC nach dem Vorbild Mahatma Gandhis mit gewaltlosen Aktionen die Passgesetze und andere Apartheidmaßnahmen bekämpfte, führten ihm neue Mitglieder zu. Innerhalb eines kurzen Zeitraums wuchs seine Mitgliederzahl von weniger als 1000 auf über 100000 an. Wortführer wie der charismatische Zuluhäuptling Albert Luthuli, ein überzeugter Pazifist und christlicher Laienprediger, gaben der Bewegung ein neues Gesicht. 1955 legten der ANC und eine Reihe anderer Organisationen mit der Freiheits-Charta ein Grundsatzprogramm vor, das eine Alternative zur Apartheid aufzeigte: eine Massendemokratie mit individuellen Menschenrechten anstelle einer rassistischen Privilegiengesellschaft. Die Reaktion des Staats war entsprechend nervös; es folgten Verhaftungen und eine zunehmende Kriminalisierung der Oppositionsbewegungen. Diese Repressionen gipfelten 1960 im Verbot des ANC und des Pan African Congress (PAC), einer Abspaltung vom ANC mit radikaleren Zielen.
 
 Die Homelandpolitik der Sechzigerjahre
 
Gegen Ende der Fünfzigerjahre nahm die NP-Regierung eine schwerwiegende Änderung im Apartheidkonzept vor. Damals begann eine Welle der Unabhängigkeitserklärungen über den afrikanischen Kontinent zu rollen. Angesichts dieses Prozesses der Entkolonialisierung lief Südafrika Gefahr, als Relikt eines überlebten Kolonialismus übrig zu bleiben und auch außenpolitisch Legitimationsprobleme zu bekommen. Premierminister Verwoerd fand die Lösung darin, dem internationalen Trend scheinbar zu folgen und Teile des Landes in die Unabhängigkeit zu entlassen.
 
Für die Schwarzen wurden nun eigens Territorien, homelands, gebildet, deren Kerngebiete aus den 1913 erst- mals festgeschriebenen, ethnisch definierten native reserves bestanden und in denen »traditionelle« afrikanische Herrschaftsordnungen erhalten bleiben sollten — Traditionen freilich, wie sie die Weißen verstanden, denn die Schwarzen wurden nicht gefragt. Bei diesen aus nicht zusammenhängenden Landstücken bestehenden homelands handelte es sich aber tatsächlich um politisch und ökonomisch lebensunfähige Kleinstaaten, die in vollständiger Abhängigkeit von Südafrika gehalten wurden. Alle Schwarzen, auch die in den Gettos der townships, mussten entsprechend den südafrikanischen Passgesetzen einem homeland angehören, vor allem auch solche Personen, die sich zum Beispiel aus Erwerbsgründen außerhalb dieser Territorien aufhielten. Man hat die Homelandpolitik bisweilen auch als »große Apartheid« bezeichnet, im Unterschied zu der bis dahin gültigen »kleinen Apartheid«, der diskriminierenden Regulierung des Alltagslebens. Ziel dieser Politik war es letztlich, einen weißen Nationalstaat Südafrika zu schaffen, der 87 Prozent des Gesamtterritoriums umfasste, in dem aber nur die Weißen, coloureds und Inder legal leben sollten, welche insgesamt weniger als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Alle Industriegebiete, die Großstädte und kommerziellen landwirtschaftlichen Regionen gehörten zum »weißen Süd- afrika«. Die Schwarzen, die oft schon in der dritten oder vierten Generation in den Städten lebten, wurden so zu Bürgern eines ethnisch definierten homeland, von dem sie nicht mehr als den Namen kannten. Im »weißen Südafrika« war ihnen der Status als Gastarbeiter im eigenen Land beschieden.
 
Um das Ziel eines »weißen Südafrika« zu erreichen, versuchte die Regierung, mit einer Reihe weiterer Gesetze und Verordnungen die Zuwanderung von Schwarzen in die Städte zu stoppen. Doch dieses Unterfangen erwies sich als Fehlschlag, denn die expandierende südafrikanische Wirtschaft war seit den Sechzigerjahren mehr denn je auf die billigen schwarzen Arbeitskräfte angewiesen. Diese Politik war denn auch faktisch ein stetiges Neuaushandeln von Kompromissen zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen und ideologischen Vorgaben. Der daraus resultierende Widerspruch zwischen den öffentlich verkündeten Zielen und der tatsächlichen Politik schuf ein dauerhaftes Legitimationsproblem, das längerfristig die Grundlagen der Apartheid aufweichen musste.
 
 Der Polizeistaat der Siebzigerjahre
 
Nach dem tödlichen Anschlag auf Verwoerd 1966 verlor die Politik der Apartheid selbst bei den Politikern, die sie betrieben, offenkundig an Überzeugungskraft. Zudem veränderte sich die soziale Basis der NP in den Sechzigerjahren stark. Viele Afrikaans sprechende Weiße hatten nämlich den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft und vertraten nunmehr ein liberales, zunehmend von der Hautfarbe unabhängiges Leistungsprinzip. Damit brachte sich diese neue afrikaanse Bourgeoisie geradezu zwangsläufig in einen Interessengegensatz zu denjenigen, die ihre Stellung der staatlichen Protektion durch die job reservation verdankten, also den Weißen in den Minen, der staatlichen Bürokratie und der subventionierten Landwirtschaft. Solche sich verschärfenden Widersprüche hatten selbstverständlich ihre Auswirkungen auf die NP und die von ihr gestellte Regierung. Denn das von ihr selbst geschaffene Bild einer in sich geschlossenen burischen Nation wurde durch die Realitäten immer deutlicher Lügen gestraft.
 
Der neue Premierminister Johannes Vorster versuchte, die auseinander strebenden Interessengruppen zusammenzuhalten. Unter den gegebenen Umständen musste jeder Versuch, eine politisch-programmatische Richtung einzuschlagen, die eine oder andere Gruppe der Wählerklientel der NP verprellen und damit ihre Machtbasis schwächen. Resultat war ein deutliches Erlahmen der Apartheidpolitik. Vorster führte zwar die begonnenen Projekte Verwoerds fort, doch entwarf seine Regierung keine wegweisenden Zielsetzungen mehr. Stattdessen begann sie sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben und dabei eine Politik des relativ flexiblen Umgangs mit dem Status quo zu betreiben. Vorster war in Bereichen zu Konzessionen bereit, die für ihn von geringerer Bedeutung waren. Im Sport machte er Zugeständnisse an die zunehmend kritischer werdende Weltöffentlichkeit, um so Boykottmaßnahmen zuvorzukommen. Doch für manchen innerhalb seiner Partei war selbst das schon zu viel. 1969 kam es zu einer ersten Spaltung der NP, als sich eine Gruppe erzkonservativer Politiker als Wiederhergestellte Nationale Partei konstituierte und fortan die Regierung Vorster des Verrats bezichtigte.
 
Zu Vorsters Politik der Bestandssicherung gehörte seit den späten Sechzigerjahren der Ausbau des Sicherheits- und Polizeistaats. Je mehr die Apartheidgesetze auf Widerstand stießen, desto drakonischer wurden die polizeistaatlichen Maßnahmen, die diesen Widerstand brechen sollten. Die Doktrin dieser Politik war der Antikommunismus, der durch das Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus von 1950 schon lange staatliche Politik war und unter Premierminister Vorster, der sich schon als Justizminister um die Zerschlagung der Untergrundstrukturen des ANC und anderer oppositioneller Organisationen verdient gemacht hatte, fröhliche Urständ feierte. Der Antikommunismus bot zudem eine Grundlage, auf der sich die auseinander strebenden Interessengruppen seiner Partei zusammenfinden konnten.
 
Inzwischen war in den townships Südafrikas eine neue Generation herangewachsen, die sich im Rahmen der Ideologie des black consciousness (schwarzes Bewusstsein) in kleinen Gruppen zusammenfand. Ihr führender Kopf war Steve Biko. Sein Ziel war es, die schwarzen Afrikaner von Minderwertigkeitskomplexen und verinnerlichten Abhängigkeiten zu befreien. Schwarze, so erklärte er, sollten ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, sie sollten wieder Stolz auf ihre Kultur, ihre Hautfarbe, ihr Afrikanersein entwickeln. Die Black-Consciousness-Bewegung, so unklar ihre Vorstellungen in vielen Punkten auch blieben, legte stets Wert darauf, dass sie die Weißen nicht grundsätzlich ablehnte, sondern nur die mentale, psychische und materielle Abhängigkeit von ihnen abschütteln wollte. Die Mitarbeit von Weißen in schwarzen Widerstandsbewegungen sollte deshalb unterbunden werden. Unterstützung fand Biko vor allem unter Schülern und Studenten.
 
Mitte der Siebzigerjahre war die Lage in den townships explosiv. Die Einflüsse der Black-Consciousness-Bewegung hatten sich inzwischen bemerkbar gemacht. Ein Übriges taten die wirtschaftliche Not und die miserablen Lebensperspektiven der jungen Schwarzen. Am 16. Juni 1976 blieben Tausende von Schülern in Soweto, der größten township Johannesburgs, dem Unterricht fern und gingen auf die Straße, um gegen die Einführung von Afrikaans als Unterrichtssprache zu demonstrieren, da dies ihre Chancen auf einen erfolgreichen Schulabschluss erheblich mindern würde; denn nur die wenigsten waren dieser Sprache mächtig. Die Polizei reagierte mit großer Brutalität, schoss auf die wehrlose Menge und tötete innerhalb weniger Tage viele der halbwüchsigen Demonstranten; die Zahlen schwanken zwischen 160 und etwa 1000 Toten. Der Aufstand wuchs sich jedoch zu einem Schwelbrand aus; »Soweto« wurde zum Mythos unter den Schwarzen, zu einem Sinnbild für Widerstand und die Macht des Volks. Insofern markierte dieser 16. Juni 1976 eine Zeitenwende.
 
 Die krisenhaften Achtzigerjahre
 
Nach der Niederschlagung des Aufstands von Soweto flüchteten Hunderte von Schülern ins Ausland, wo sie sich dem ANC anschlossen. Dadurch konnte diese Organisation erstmals wieder Einfluss auf die Geschehnisse in Südafrika nehmen. Denn der ANC fand nun willige Rekruten für einen bewaffneten Kampf, der zu Beginn der Achtzigerjahre dann tatsächlich einsetzte, auch wenn er sich im Wesentlichen auf symbolische Aktionen beschränkte, die den Staat nie ernsthaft gefährdeten. Aber diese Aktionen führten bald zur weiteren Mobilisierung von Schwarzen, und dies ließ neue Massenorganisationen entstehen. Dabei ging der Hauptwiderstand von der Bevölkerung im Land selbst aus, der Exil-ANC profitierte jedoch davon. Eine neue Kraft im Kampf um die Freiheit war die erstarkende schwarze Gewerkschaftsbewegung. Ihr Aufstieg war geradezu atemberaubend: Waren 1972 lediglich 14000 Betriebszugehörige gewerkschaftlich organisiert, so 1979 schon 85000 und 1986 über eine Million. Die Ausdifferenzierung der südafrikanischen Wirtschaft mit einer Knappheit gut ausgebildeter Arbeitskräfte gaben ihr ein wirtschaftliches und zunehmend auch ein politisches Gewicht. Deutliches Zeichen für die gewandelte Machtbalance war die Tatsache, dass die vormals eher repressiv vorgehende Regierung Vorster die in den frühen Siebzigerjahren neu entstehenden schwarzen Gewerkschaften nun gewähren ließ. Anfang der Achtzigerjahre begann die Phase der Zusammenschlüsse zu Dachverbänden, was die Macht der organisierten Opposition weiter stärkte, auch wenn es hierbei stets bei einer Konkurrenz mehrerer Verbände blieb.
 
Inzwischen hatten der Verfall der Goldpreise, die Auswirkungen der Ölkrise von 1973, der Zusammenbruch der weißen Herrschaft in den benachbarten portugiesischen Kolonien Angola und Moçambique sowie der bewaffnete Kampf in Namibia und im heutigen Simbabwe das Vertrauen in die Regierung noch zusätzlich erschüttert. 1978 wurde Pieter Willem Botha der Nachfolger des zurückgetretenen Premierministers Vorster. Er betrieb eine Politik behutsamer Reformen, indem er 1983 die Inder und die coloureds als Juniorpartner in das politische System aufnahm. Sie erhielten jeweils eigene Parlamente mit begrenzten Befugnissen; Botha selbst wurde nach der neuen Verfassung, die 1984 in Kraft trat und ihn zum Staatspräsidenten machte, mit weit reichenden Vollmachten ausgestattet. An die Abschaffung der Apartheid dachte Botha allerdings nicht, auch wenn er einige Gesetze, wie das Mischehenverbot und — unter erheblichem innen- und außenpolitischen Druck — 1987 die Passgesetze aufhob. Seine begrenzten Reformen brachten keine Ruhe in die townships, dafür aber eine Spaltung seiner Partei. Diese neue Konservative Partei, die an den Vorstellungen Verwoerds festhielt, entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer immer größeren Gefahr für Botha, der daraufhin seine Reformen weiter drosselte, um nicht noch mehr Wähler zu verlieren. Die schwarze Mehrheit blieb von der politischen Mitsprache ausgeschlossen, auf Widerstand reagierte der Staat zunehmend brutaler. Mit Bothas Aufstieg rückte die Armee neben der Polizei zum zentralen Ordnungsfaktor in Südafrika auf und begann immer unverblümter, die politische Richtung zu bestimmen. Die Ausrufung des Ausnahmezustands im Jahr 1986, die permanenten Unruhen in den Siedlungen der Schwarzen, die Politisierung der schwarzen Bevölkerung, Konsumentenboykotte und internationale Sanktionen zeigten den reformwilligen Kräften, dass der Apartheidstaat in eine Sackgasse geraten war, aus der nur noch eine Kehrtwende heraushalf. Erst das Abtreten Bothas im Jahre 1989 brachte die Chance zu einem Neuanfang. Sein Nachfolger Frederik de Klerk wusste sie zu nutzen.
 
Dr. habil. Christoph Marx, Freiburg
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Südafrika: Republik im Umbruch
 
 
Adam, Heribert: Südafrika. Soziologie einer Rassengesellschaft. Frankfurt am Main 41977.
 Ansprenger, Franz: Südafrika. Eine Geschichte von Freiheitskämpfen. Mannheim u. a. 1994.
 Davenport, Thomas R.: South Africa. A modern history. Basingstoke u. a. 41991.
 Fisch, Jörg: Geschichte Südafrikas. München 21991.
 Hagemann, Albrecht: Nelson Mandela. Reinbek 21997.
 Mandela, Nelson: Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 81998.
 Mathabane, Mark: Kaffern-Boy. Ein Leben in der Apartheid. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 41991.
 Worden, Nigel: The making of modern South Afrika. Conquest, segregation and apartheid. Oxford u. a. 21995.

Universal-Lexikon. 2012.

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